Noëmi Lerch

Willkommen im Tal der Tränen

«Der Tuinar legt seine Hände auf den Tisch. Legt sie dort parat. Wozu einen Lebenslauf vorlegen. Ein Diplom hat er keines. Aber seine Hände.»

Die Landschaft ist längst kein Naturidyll mehr, auch nicht im „Tal der Tränen“, einer Alp, auf der Kühe weiden, aus deren Milch drei Sennen einen Käse machen. Unweit davon gräbt sich ein Bagger in die Erde und strömen Touristen aus dem Unterland herauf. Dennoch ist es nachts still auf der Alp, das „Läuten der Glocken hallt wider von den Rändern der Nacht“. Zoppo, der Lombard und der Tuinar, der neu ist, verrichten mit Umsicht ihre tägliche Arbeit. Zoppo schweigt dazu gelassen, wogegen der Lombard zuweilen an seinem dumpfen Ingrimm zu ersticken droht. Und der Tuinar, der von weit her kommt, träumt vom Meer zuhause und ist doch froh, hier zu sein.
Noëmi Lerch erzählt mit einer ausgesprochen sparsamen, poetischen Sprache. Sie fängt flüchtige Momente und Empfindungen ein, lässt Bilder kurz aufblitzen, ohne sie auszumalen. Nur selten gerät sie für Momente ins sprudelnde Erzählen, um sogleich wieder innezuhalten. Ihre minimalistisch gesetzte Prosa lässt so auf den Textseiten viel weissen Freiraum. Diesem antwortet jeweils gegenüberliegend ein schwarzes Schabkartonbild des Künstlerduos Walter Wolff. Auf diese Weise entsteht ein regelmässiges Wechselspiel von Dunkel und Hell, Bild und Text. Noëmi Lerch, die das Leben auf der Alp aus eigener Erfahrung kennt, zeichnet in „Willkommen im Tal der Tränen“ kein Heimatidyll, ihre drei Protagonisten sind keine Muster an Tugendhaftigkeit. Eingebettet ins tägliche Einerlei, bei Wind und Wetter, erfahren sie sich als bescheidene Rädchen in einem grösseren, kosmischen Ganzen.
(Beat Mazenauer)
   
Schweizer Literaturpreis 2020

Verlag die Brotsuppe, Biel 2019

ISBN: 978-3-03867-015-5