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Gastrede Die Rede, die Klaus Merz letzte Woche an der Frankfurter Buchmesse hielt, hat auch nach diesem Wahlsonntag Gültigkeit.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leserinnen und Leser,
Ich soll und darf heute als Gast zu Ihnen sprechen, das freut mich natürlich, ich grüsse Sie.
Doch, worum geht es hier eigentlich genau, und wo steckt der Schlüssel zur Sakristei? Denn eine Messe wird ja gehalten, fürs Buch. Nach den Leipziger die Frankfurter Gebete, jährlich – also wende ich mich doch einfach weiter an Sie, die Gläubigen.
Liebe Gemeinde, sage ich und versuche zu leuchten, von innen heraus. Genügt das? Springt der Funke über? Und ist auch genügend Messwein in der Nähe, um den allfälligen Brand zu löschen? – Oder stehen wir hier einfach nur ganz profan ein wenig zusammen am SBVV-Stand, soll meine kleine Eröffnung eher dem Handel dienen, der gängigen Praxis oder ist vielleicht gar eine Stand-Pauke gefragt?
Eine ordentliche «Standpauke», meine Damen und Herren, sollte ich nämlich meinem Heimatkanton bereits halten, das trug mir neulich eine Schweizer Zeitung auf. Sie tat es in Hinblick auf unsere fünfzigsten eidgenössischen Parlamentswahlen vom kommenden Wochenende. Eine viel klarere Sachlage, denkt man. Und natürlich juckte es mich als ortskundigen Schreiber bei diesem Ansinnen auch sofort in den Fingern. Doch überdachte ich dann in Ruhe das Wort «Pauke», so kam mir nicht das kräftige Austeilen, sondern zu allererst die «Harmonie» meiner Kindheit in den Sinn und ihr Paukist, er hiess Paul. Seine Uniform war swissairblau.
Ich geriet also aus dem Stand ins Schwärmen und schweife auch eben jetzt, Sie hören es, bereits wieder ab, denn, stellen Sie sich vor, wochentags schwebte dieser Paul wie ein Erhabener über den grössten Baustellen unserer Gegend und lenkte den Kran. Er schaute stets weit über seine eigene Nase hinaus, hielt auch seine Zwischenmahlzeiten, will sagen, die Znüni- und Zvieripausen, meist allein im luftigen Kabäuschen ab und pinkelte gekonnt durch den engen Bierflaschenhals, denn das kurzsichtige Lamentieren und Politisieren zwischen den hart werdenden Fundamenten hielt er nur schlecht aus.
Sie merken es, am liebsten würde ich auch jetzt nur von Paul erzählen, der so trefflich die grosse Trommel schlug und es nie an Takt fehlen liess. An Festtagen gehörte er zu unserem festen musikalischen Bodenpersonal. – Und, werte Anwesende, die Sie das Lesen und genaue Hinhören ja gewohnt sind, Sie werden die günstige Brücke sicher sofort erkannt haben, die sich mir an diesem Punkt meiner Abschweifung anbietet, um mich vom musikalischen nun endlich ganz und gar Ihnen, dem literarischen Bodenpersonal zuzuwenden: Autorinnen und Autoren, Verlegerinnen, Verlegern, Buchhändlerinnen und Buchhändlern, den Leserinnen und den Lesern.
Ja, wohin kämen wir ohne das Lesen? – Weder zu geistiger Frisch-luft, noch zu wirklich vertieften Einsichten oder gar Empathie. – Und, fast vergässe man es zu erwähnen, stünden, wie bereits angetönt, unsere Parlamentswahlen nicht unmittelbar vor der Tür, wir brächten es schon gar nicht zu einer Demokratie, die ihren Namen tatsächlich noch verdient.
Das aber, verehrte Anwesende, haben auch die «Populisten aller Länder» längst begriffen und operieren, der Einfachheit halber, schon gar nicht mehr mit allen Buchstaben unseres Alphabets, nein, es genügen ihnen meist schon zwei, drei leicht fassliche Schlag-Zeilen oder lieber noch ein paar scharf konturierte Abziehbilder, von schwarzen und weissen Schafen etwa, um ihr eigenes Weltbild zu skizzieren und uns Analphabeten, für die sie uns – insgeheim und immer zuversichtlicher – halten, klar und deutlich vor Augen zu führen, was Sache ist und was ihnen, unseren fürsorglichen Heilsbringern und Abschottern der Nationen, am Herzen liegt. Und sie nennen die Bevölkerung ihrer Heimatländer auch wieder kurz und bedenkenlos Volk.
Nur sind Lesende, so hoffen wir doch, solch sprachlichen und bildnerischen Kurzschlüssen seit je her nicht sehr zugänglich, da ihnen ja gerade in Wort & Bild das gesamte Reservoir menschlichen Denkens, Nach-Sinnens und Erinnerns zur Verfügung steht, um einen Erkenntnis- und Wissensdurst zu löschen, der sich (selbst vor anstehenden Abstimmungen und Wahlen) auch mit noch so viel Freibier nicht einfach stillen und aus den Ohren spülen lässt.
Diese widerborstige Leserschaft aber gilt es darum ganz besonders im Auge zu behalten, das haben die potenten Potentaten samt ihrer folgsamen Gefolgschaft querweltein längst begriffen und reissen sich denn auch, oft handstreichartig, einst liberale Medien kurzerhand unter ihre eigenen Nägel: Um sich das freie Wort, das sie doch selber so gern beschwören – kraft ihrer prall gefüllten Geldbeutel – immer enger auf ihren eigenen Leib zuschneidern zu lassen. – Nein, kein Werbefeldzug ist ihnen zu teuer, kein Weltformat zu breit und keine Diffamierung Andersdenkender grob genug, um im Krieg, ein Wort, das sie fast so sehr lieben wie das Wort Volk, gegen die Barbaren des Guten & Netten – und wider bedächtigere Lesarten unserer immer komplexer werdenden Wirklichkeit – den Sieg davonzutragen.
Doch, meinen Damen und Herren, wohin bin ich nur, verzeihen Sie, hier aus diesem Stand heraus, bloss geraten? Liess ich mich hinreissen, erwischte mich Paul mit seinem Kranhaken am Hosenboden und hob mich für eine Weile in die Höhe, von wo aus ich kurz meinte, die Übersicht zu gewinnen über die grosse Baustelle rund um uns, die wir Alltag nennen? Ein Alltag, der doch, unserer Freiheit nicht unähnlich, von Tag zu Tag, wir wissen es, wiederum von neuem zu buchstabieren, zu lesen und zu bauen ist. Denn, keine Geiss schleckt es weg, «Alfabetizacion ist und bleibt Liberation», dieser kluge Leitgedanke von Paolo Freire hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren, im Gegenteil, ja, auch in unseren hehren Landen nicht.
Geschätzte Damen und Herren, halten Sie also bitte Ihre lesbaren Güter weiterhin für uns bereit. Wir brauchen sie nämlich, dringend, um unsere menschliche Gemeinschaft dank gründlicher Einsichten und Gedanken tatsächlich weiter voran zu bringen. Ich danke Ihnen dafür.
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